Ambivalenzen und Konfliktlösungen

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Diese Betrachtung der Mediation aus einer postmodernen Perspektive wurde durch den Artikel „Quo Vadis Postmoderne?“ von Heiko Kleve[i] angestoßen. Die in diesem Artikel dargestellten Ideen und Interpretationen stützen sich auf die von Kleve beschriebenen Dekonstruktionen der Hermeneutik, Dialektik und Emanzipation. Ziel ist es, die Relevanz und Anwendung dieser postmodernistischen Konzepte auf die professionelle Praxis der Mediation und die systemimmanente Konfliktlösung zu untersuchen.

Postmoderne Strömungen

Die Postmoderne, eine intellektuelle Strömung, die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, hat tiefgreifende Auswirkungen auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche, einschließlich der Art und Weise, wie wir Konflikte verstehen und lösen. Im Kern der Postmoderne steht die Skepsis gegenüber großen Metaerzählungen und universellen Wahrheiten. Stattdessen betont die Postmoderne die Vielfalt der Perspektiven, die Relativität von Wahrheiten und die konstruktive Natur von Wissen.

Drei zentrale Tendenzen der Postmoderne, die auch aktuelle Konflikte und Mediationsverfahren beeinflussen können, sind:

  1. Dekonstruktion von Bedeutung: Die Postmoderne hinterfragt die Stabilität von Bedeutungen und zeigt auf, dass Interpretationen subjektiv und kontextabhängig sind. Dies führt zu einer erhöhten Sensibilität für die unterschiedlichen Perspektiven der Konfliktparteien und der Notwendigkeit, diese im Mediationsprozess zu berücksichtigen.
  2. Dynamik des Fortschritts: Die Postmoderne sieht den Fortschritt nicht als linearen, zielgerichteten Prozess, sondern als ein ständiges Navigieren durch Widersprüche und Gegenbewegungen. Diese Sichtweise hilft Mediatoren, die Dynamik von Konflikten zu verstehen und flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren.
  3. Ambivalenz der Emanzipation: Die Postmoderne betont, dass jede Form der Befreiung und Selbstverwirklichung mit neuen Formen der Abhängigkeit und Begrenzung einhergeht. In der Mediation bedeutet dies, dass jede Lösung auch neue Kompromisse und Verpflichtungen mit sich bringt, die es zu akzeptieren gilt.

Diese postmodernen Tendenzen fordern Mediatoren dazu auf, Konflikte als komplexe und dynamische Prozesse zu betrachten. Sie bieten Werkzeuge, um tiefere Bedeutungen zu verstehen, Widersprüche zu erkennen und realistische, nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Im folgenden Artikel werden wir anhand der Dekonstruktionen von Hermeneutik, Dialektik und Emanzipation – wie sie von Heiko Kleve in „Quo Vadis Postmoderne?“ beschrieben wurden – aufzeigen, wie diese postmodernen Perspektiven die Mediation als professionelle Praxis und systemimmanente Konfliktlösung bereichern und transformieren können.

Bedeutung und Möglichkeiten von Interpretationen in der Mediation

In der Mediation, einer Methode zur Konfliktlösung, spielen Interpretationen eine zentrale Rolle. Jeder Mediand (Konfliktbeteiligte) bringt seine eigene(n) Perspektive(n) und Interpretation(en) der Situation mit, die von individuellen Erfahrungen, Werten und Wahrnehmungen geprägt ist (sind). Diese Interpretationen beeinflussen maßgeblich die Aussagen und Standpunkte der Medianden und bestimmen, wie sie den Konflikt wahrnehmen und darauf reagieren.

  1. Bedeutung von Interpretationen: Interpretationen sind nicht einfach objektive Darstellungen von Fakten, sondern subjektive Konstrukte, die durch Sprache, Kultur und persönliche Erfahrungen geformt werden. In der Mediation bedeutet dies, dass jede Partei eine eigene „Wahrheit“ hat, die es zu verstehen gilt. Die Aufgabe des Mediators besteht darin, diese individuellen Interpretationen anzuerkennen und zu erforschen, um die tieferliegenden Bedürfnisse und Interessen hinter den Positionen der Medianden zu erkennen.
  2. Umgang mit Interpretationen:

Verständnis und Empathie: Durch das Erkennen und Verstehen der verschiedenen Interpretationen können Mediatoren Empathie fördern. Indem sie den Medianden helfen, die Perspektiven der anderen Partei zu verstehen, können Missverständnisse geklärt und der Weg zu einer gemeinsamen Lösung geebnet werden.

Flexibilität und Kreativität: Unterschiedliche Interpretationen eröffnen Möglichkeiten für kreative Lösungen. Indem die Medianden ermutigt werden, ihre Sichtweisen zu hinterfragen und alternative Interpretationen in Betracht zu ziehen, können neue, innovative Lösungsansätze entwickelt werden.

Konstruktive Kommunikation: Interpretationen beeinflussen die Kommunikation zwischen den Medianden. Ein Bewusstsein für die subjektive Natur von Interpretationen hilft, Kommunikationsbarrieren abzubauen und den Dialog zu fördern. Dies ermöglicht eine offenere und konstruktivere Diskussion der Konfliktthemen.

Anwendung der postmodernistischen Dekonstruktionen auf die Mediation

Ausgangspunkt: „Quo Vadis Postmoderne?“ von Heiko Kleve beleuchtet die Erosion moderner Metaerzählungen und bringt durch drei zentrale Dekonstruktionen Ambivalenzen zum Vorschein:

1. Dekonstruktion der Hermeneutik: Ambivalenz des Interpretierens

Interpretation: Laut Kleve zeigt die Dekonstruktion der Hermeneutik, dass der Sinn dessen, was wir in der Welt interpretieren, niemals vollständig erfasst werden kann. Der Sinn verschiebt sich ständig wie ein Horizont, den wir nie ganz erreichen.

Anwendung auf Mediation:

  • Professionelle Mediation: Ein Mediator erkennt, dass die Interpretationen der Konfliktparteien ständig im Wandel sind und nie absolut verstanden werden können. Der Mediator muss sich der dynamischen Natur von Bedeutungen und Perspektiven bewusst sein und flexibel bleiben.
  • Mediationsverfahren: Das Verfahren sollte offen für die sich verändernden Interpretationen der Parteien sein. Ein Mediationsprozess, der diese Ambivalenz anerkennt, wird die Parteien ermutigen, ihre eigenen Wahrnehmungen und Bedeutungen zu hinterfragen und zu überdenken. Dadurch entsteht ein Raum, in dem neue Verständnisse und Lösungsansätze entwickelt werden können.

2. Dekonstruktion der Dialektik: Ambivalenz des Fortschritts

Interpretation: Kleve argumentiert, dass die Dynamik des Fortschritts verdeutlicht, dass das Wissen zwar zunimmt und die Geschichte voranschreitet, jedoch niemals eine endgültige Synthese erreicht. Es entstehen immer neue Widersprüche und Gegenbewegungen.

Anwendung auf Mediation:

  • Professionelle Mediation: Ein Mediator muss verstehen, dass Konfliktlösung kein endgültiger Zustand ist, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Der Fortschritt in der Mediation ist oft nicht linear und es wird immer wieder zu neuen Herausforderungen und Widersprüchen kommen.
  • Mediationsverfahren: Das Verfahren sollte darauf ausgelegt sein, dass es keine endgültigen Lösungen gibt. Stattdessen sollte es den Parteien ermöglichen, flexibel und adaptiv zu sein, um auf neue Konflikte und Veränderungen reagieren zu können. Dies fördert eine langfristige Konfliktlösung und Anpassungsfähigkeit.

3. Dekonstruktion der Emanzipation: Ambivalenz der Befreiung

Interpretation: Kleve zeigt auf, dass die Dekonstruktion der Emanzipation verdeutlicht, dass das Subjekt niemals vollständig aus seinen Verstrickungen und Abhängigkeiten befreit werden kann. Jede Befreiung bringt neue Einschränkungen mit sich.

Anwendung auf Mediation:

  • Professionelle Mediation: Ein Mediator erkennt, dass absolute Freiheit und Unabhängigkeit der Parteien eine Illusion sind. Jede Lösung wird neue Herausforderungen und Abhängigkeiten mit sich bringen. Der Mediator sollte daher realistische und pragmatische Ziele setzen.
  • Mediationsverfahren: Das Verfahren sollte die Parteien darauf vorbereiten, dass jede Lösung auch neue Verpflichtungen und Kompromisse erfordert. Es sollte den Parteien helfen, diese Ambivalenzen zu akzeptieren und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Dies trägt zu nachhaltigen und realistischen Ergebnissen bei.

Fazit

Durch die Anwendung der von Heiko Kleve in „Quo Vadis Postmoderne?“ dargelegten Dekonstruktionen der Hermeneutik, Dialektik und Emanzipation auf die Mediation wird deutlich, dass Mediation ein dynamischer, nie final abgeschlossener Prozess ist. Dieser Prozess stößt nach der Lösungsfindung im Konfliktfall auch einen kontinuierlichen persönlichen Entwicklungsweg an, der es den Medianden ermöglicht, dauerhaft und reflektiert mit zukünftigen Konflikten umzugehen. Die Anerkennung der Ambivalenzen des Interpretierens, des Fortschritts und der Befreiung ermöglicht es Mediatoren, flexibel und adaptiv zu handeln und den Parteien zu helfen, realistische und nachhaltige Lösungen zu finden. Dies führt zu einer tieferen und reflektierten Konfliktlösungspraxis.

Reflexionsfragen:

  1. Wie beeinflusst das Verständnis der Ambivalenz Ihre Herangehensweise an Konflikte in der Mediation?
  2. Welche konkreten Beispiele für Ambivalenz haben Sie in Ihren bisherigen Mediationsprozessen beobachtet und wie sind Sie damit umgegangen?
  3. Inwiefern hat die postmoderne Sichtweise auf den Fortschritt Ihre Perspektive auf die Dynamik und Komplexität von Konflikten verändert?
  4. Welche neuen Formen von Abhängigkeit und Begrenzung könnten aus einer Lösung eines aktuellen Konflikts resultieren, und wie könnten Sie als Mediator diese Herausforderungen angehen?
  5. Wie können Sie die subjektive Natur von Interpretationen in Ihrem Mediationsstil stärker berücksichtigen, um eine tiefere Verständigung zwischen den Konfliktparteien zu fördern?

In einer weiteren Ausgabe des Newsletters ‚CME Mediation&Wandel‘ werden wir die hier aufgezeigten postmodernen Konzepte im Kontext der Mediation vertiefend betrachten. Diese ausführlichere Untersuchung wird Mediatoren und Führungskräften helfen, die theoretischen Grundlagen noch besser zu verstehen und in die Praxis umzusetzen.

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, diese Ausgabe von CME Mediation&Wandel zu lesen. Wir hoffen, dass die Erörterung der postmodernen Perspektiven und deren Anwendung auf die Mediation wertvolle Einsichten und praktische Anregungen für Ihre Arbeit als Mediator oder Führungskraft geliefert hat.

Bis zur nächsten Ausgabe und eine gute Zeit.






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[i] Heiko Kleve, Quo Vadis Postmoderne?, 2022, Carl-Auer-Verlag, https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/quo-vadis-postmoderne